Interview mit Frau Prof. Dr. Kerstin Krieglstein - Rektorin der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

- Neurowissenschaftlerin
- studierte Chemie in Marburg und Pharmazie an der LMU München
- seit Oktober 2020 Rektorin der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
- seit Dezember 2020 Vizepräsidentin für Forschung, wissenschaftlichen Nachwuchs, Hochschulmedizin und Gesundheitswissenschaften der Hochschulrektorenkonferenz
- seit Januar Mitglied der Arbeitsgruppe Forschungsorientiere Geleichstellungsstandards der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG)
- ist verheiratet und hat zwei Kinder
UF: Erst seit kurzem sind Sie Rektorin der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Herzlichen Glückwunsch zur gewonnenen Wahl! Warum haben Sie sich für das Amt beworben?
Kerstin Krieglstein: Zunächst möchte ich betonen: Konstanz ist eine großartige Universität, und wir haben in den beiden Jahren, in denen ich ihr als Rektorin vorstehen durfte, sehr viel gemeinsam erreicht. Es gab für mich...
daher keinen Grund, die Universität Konstanz verlassen zu wollen. Aber manchmal eröffnen sich am Horizont Chancen, bei denen man zugreifen muss. Die Aussicht, an meiner Heimatuniversität, mit der ich seit mehr als zehn Jahren verbunden bin, Rektorin werden zu können, hat mich sehr gereizt. Seit meiner Rückkehr nach Freiburg bin ich hier mit offenen Armen empfangen worden. Darüber freue ich mich sehr.
UF: Vermissen Sie es, nicht mehr aktiv in der Forschung tätig zu sein?
Kerstin Krieglstein: Ich bin aufgrund meiner Leidenschaft für Forschung und Lehre Professorin geworden. Und gerade weil mich die Forschung so sehr fasziniert, wollte ich dazu beitragen, Freiräume dafür zu schaffen – für mich ebenso wie für meine Kolleginnen und Kollegen. Deshalb habe ich mich in der akademischen Selbstverwaltung engagiert, zunächst im Fakultätsrat in Göttingen, dann in Freiburg als Prodekanin und schließlich als hauptamtliche Dekanin der Medizinischen Fakultät. Dabei ist mir jedoch klargeworden: Wenn ich diesen Weg mit allen Konsequenzen gehen will, muss ich die wissenschaftliche Karriere aufgeben – und bevor ich zweitklassige Forschung betreibe, mache ich lieber einen klaren Cut.
UF: Sie sind die erste Frau, die den Posten als Rektorin an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg innehat. Auch davor waren Sie schon in Führungspositionen. Haben Sie das Gefühl, es ist als Frau schwieriger, in eine Führungsposition zu gelangen? Müssen Sie sich mehr profilieren?
Kerstin Krieglstein: Für mich ist es wichtig, Umgebungen zu schaffen, in denen das Auswahlkriterium „Frau/Mann“ immer mehr an Bedeutung verliert. Diesen Prozess kann man mit einer Quote begleiten, was ich in einer früheren Phase meiner Karriere kategorisch abgelehnt hätte. Mittlerweile kann ich ihr aber vieles abgewinnen, weil sie helfen kann, eine Sogwirkung zu generieren. Mir selbst sind zudem viele Problematiken erst im Rückblick aufgefallen. Viele Gleichstellungsaspekte sind nicht unmittelbar ersichtlich, wenn man forscht, lehrt oder sich in einem Gremium engagiert. In späteren Positionen konnte ich meine Erfahrungen aber oft neu bewerten – und im Nachhinein ist mir dann klargeworden, dass ich mich für manche Qualifikationen anders oder sogar mehr engagieren musste.
UF: Was wollen Sie als Rektorin erreichen? Welche konkreten Ziele wollen Sie in den nächsten Jahren umsetzen?
Kerstin Krieglstein: Mein erstes Vorhaben ist, die Universität als Rektorin neu kennenzulernen. Meine weitere Aufgabe sehe ich dann darin, sie in ihrer Entwicklung zu unterstützen. Sie muss ihr Profil weiter schärfen und vielleicht auch Dinge ans Tageslicht bringen, die bislang nicht so sichtbar waren, um weitere Alleinstellungsmerkmale zu definieren. In der Folge muss es letztlich das Ziel sein, die Universität Freiburg zurück in den Kreis der Exzellenzuniversitäten zu führen. Ihr Auftreten ist zwar oft nah am Understatement, was ich persönlich sehr sympathisch finde, doch aufgrund ihrer nachgewiesenen Leistungsstärke in Forschung und Lehre spielt sie eindeutig in der ersten Liga.
UF: Sie haben den Posten als Rektorin der Universität Konstanz frühzeitig verlassen, wie kam es dazu? Sehen Sie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg mehr Möglichkeiten, etwas zu bewirken?
Kerstin Krieglstein: Frei von jeder Wertung ist zunächst zu sagen, dass die beiden Universitäten von ihrem Charakter her sehr unterschiedlich sind. Konstanz ist in den 1960er Jahren als Reformuniversität gegründet worden und überzeugt mit ihren Werten. Freiburg ist eine Universität mit jahrhundertelanger Tradition. Sie hat mehr Studierende, mehr Professuren und vor allem ein außergewöhnlich differenziertes Fächerspektrum. Gerade die Kombination einer Technischen und einer Medizinischen Fakultät, die für Freiburg so charakteristisch ist, ist für eine Volluniversität fast einzigartig. Das Potenzial, das darin liegt, möchte ich noch stärker entwickeln.
UF: Seit Januar sind Sie in der Arbeitsgruppe Forschungsorientiere Geleichstellungsstandards der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) tätig. Was ist Ihr Ansatz, den Frauenanteil in der Forschung und Wissenschaft zu erhöhen? Welche Lösungsmöglichkeiten sehen Sie für die zwei Schwerpunktthemen?
(1. Erhöhung des Frauenanteils in der Postdoc-Phase und 2. Umgang der Hochschulen mit dem Thema Vielfältigkeit/Diversität)
Kerstin Krieglstein: Wichtig ist zunächst, dass das Thema Gleichstellung und Vielfalt an einer Universität strukturell verankert und als strategisch bedeutsame Aufgabe etabliert ist. Dies bedeutet, dass aus einem – ich sage es mal provokativ – Pseudoengagement ein Selbstverständnis werden muss. Als zeitgemäße Standards gelten vor allem drei Instrumente: Mentoring- und Coaching-Programme sowie gezielte Unterstützung, zum Beispiel zur wissenschaftsnahen Vereinbarkeit von Beruf und Familie etwa durch flexible und bedarfsgerechte Kinderbetreuungsangebote. Aber der entscheidende Punkt ist: Welche Botschaft vermittelt die Einrichtung mit diesem Angebot und wie profitiert die Einzelne tatsächlich? Wir brauchen eine Willkommens- und Ermöglichungskultur, die aber auch ganz klar die Wettbewerbskultur zur Bestenauslese aufzeigt. Das größte Problem hierbei ist immer noch das in unserer Gesellschaft verankerte Vorurteil, dass Frauen im Spannungsverhältnis von beruflicher Qualifikation und Familienbetreuung der Bestenauslese nicht genügen würden. Das heißt, es braucht eigentlich ein Coaching beziehungsweise ein Anti-Bias-Training für alle Mitglieder von Auswahl- und Evaluierungskommissionen.
Beim Umgang mit Diversität gehört die Universität Freiburg seit vielen Jahren bundesweit zu den Vorreitern. Die aktuellen Entwicklungen in Politik und Gesellschaft zeigen, wie wichtig es ist, mit unterschiedlichen Meinungen, kulturellen, sozialen und fachlichen Hintergründen und Erfahrungen konstruktiv umzugehen. Das ist gerade durch die Corona-Pandemie noch einmal sehr deutlich geworden. Ein guter Umgang mit Diversität bedeutet für uns, bei allen Entscheidungen darauf zu schauen, welche Auswirkungen sie auf verschiedene Gruppen an der Universität haben, und dann diversitätssensibel zu entscheiden. Für Universitäten wie die Albert-Ludwigs-Universität Freiburg ist ein selbstverständlicher und erfolgreicher Umgang mit Gleichstellung und Diversität Ausdruck ihrer Kultur, das heißt ihrer Vorbildfunktion für die Gesellschaft sowie Ausdruck ihrer Zukunftsfähigkeit.
Foto: Sandra Meyndt/Universität Freiburg
UF: Die Corona-Pandemie trifft auch die Lehre und Forschung an den Universitäten. Wie wollen Sie diese Krise bewältigen? Welche neuen Möglichkeiten sehen Sie?
Kerstin Krieglstein: Die Universität Freiburg ist in dieser Situation gut aufgestellt und hat gerade in der Krise bewiesen, was sie für ihre Mitglieder, aber auch für die gesamte Gesellschaft leisten kann. Unsere Lehrenden haben ihren Unterricht innerhalb kürzester Zeit in den digitalen Raum verlagert. Die Verwaltung ist zu einem großen Teil ins Homeoffice und zur Telearbeit gewechselt. Unsere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben über Länder- und Fächergrenzen hinweg gemeinsam daran geforscht, wie sich die Pandemie bekämpfen lässt. Darüber hinaus haben sie für die Öffentlichkeit wichtige Beiträge geliefert, um das Zeitgeschehen aus der Perspektive ihrer Disziplinen einzuordnen. Unsere Studierenden haben sich in großer Zahl als freiwillige Helferinnen und Helfer engagiert, zum Beispiel im Gesundheitswesen. Und das Universitätsklinikum Freiburg hat zeitweise die meisten Corona-Patientinnen und -Patienten bundesweit versorgt. All das erfüllt mich als Rektorin dieser Universität mit Stolz und Zuversicht.
UF: Wie haben Sie das vergangene Sommersemester 2020 wahrgenommen? Ist die digitale Lehre mit der Präsenzlehre zu vergleichen oder sogar besser? Welches Modell sehen Sie in der Zukunft?
Kerstin Krieglstein: Es geht zukünftig nicht um „entweder – oder“, sondern um „sowohl – als auch“. Wir werden uns weiterhin mit dem Besten aus beiden Welten auseinandersetzen, um die Lehre qualitativ und international wettbewerbsfähig weiterzuentwickeln. Hybride Lehrformate werden an Bedeutung gewinnen, denn sie ermöglichen eine höhere Flexibilität für Lehrende und Studierende. Darunter verstehen wir unter anderem Formate, die einen Wechsel von Präsenz- und digitaler Lehre vorsehen, oder solche, bei denen ein Teil der Studierenden im Seminarraum anwesend und ein anderer Teil zeitgleich per Videokonferenz zugeschaltet ist. Mein Wunsch ist, dass wir solche Ansätze in Zukunft über alle Studiengänge hinweg stärker nutzen. Dies ermöglicht auch eine neue Dimension der Inklusion, denn damit können wir beispielsweise Studierenden entgegenkommen, die neben ihrem Studium arbeiten, Kinder oder andere Familienangehörige betreuen müssen. Sie sollen individuell entscheiden und Lehrangebote flexibel nach den eigenen Rahmenbedingungen und Vorlieben zusammenstellen können.
UF: Wie sehen Sie allgemein die Zukunft der Universitäten? Was muss auf lange Sicht verbessert werden? Und was hat sich gut bewährt?
Kerstin Krieglstein: Die Universitäten haben sich in den vergangenen beiden Jahrzehnten sehr dynamisch entwickelt. Sie haben sich mit anderen Universitäten und Forschungsinstitutionen weltweit vernetzt und den Austausch intensiviert. Gerade im Zuge des Exzellenzwettbewerbs haben wir beobachtet, wie sie ihre Möglichkeiten zur strategischen Steuerung sowie ihre eigene wissenschaftliche und institutionelle Erneuerungsfähigkeit gestärkt haben. Sie haben sich zur Gesellschaft hin geöffnet, suchen den Dialog und beziehen Bürgerinnen und Bürger in ihre Forschung und Lehre aktiv ein. Zugleich ist der Wettbewerb zwischen den Universitäten national und international härter geworden – um Drittmittel, Studierende und Spitzenpersonal in Forschung, Lehre und im wissenschaftsunterstützenden Bereich. Was jedoch mit all diesen Entwicklungen leider nicht Schritt gehalten hat, ist eine angemessene Grundfinanzierung. Die Qualität der Lehre hängt nicht nur von der Kompetenz der Lehrenden ab, sondern in gleicher Weise auch von den Gruppengrößen, der Bereitstellung von geeigneter und zeitgemäßer Infrastruktur und ihrer fachlichen und technischen Weiterentwicklung. Studienplätze müssen aus der Grundausstattung ausfinanziert werden, alles andere ist Selbstbetrug. Bildung ist die Grundvoraussetzung für den Wohlstand einer Gesellschaft, universitäre Bildung die Basis für deren Innovationskraft. Jedes Land stellt hier die Weichen für seine Zukunft, auch die Regierung des Landes Baden-Württembergs. Um auch zukünftig der führende Forschungs- und Innovationsstandort der Bundesrepublik zu sein, wäre auch ein führendes statt eines durchschnittlichen finanziellen Engagements für seine Landesuniversitäten notwendig.
UF: Was wünschen Sie sich für Ihre berufliche Zukunft?
Kerstin Krieglstein: Zunächst freue ich mich darauf, im Frühjahr 2021 mit meinem neuen Team im Rektorat durchstarten zu können. Wir werden mit dem Rektorat und den universitären Gremien die strategischen Ziele der Universitätsentwicklung erarbeiten und in einem partizipativen Prozess die Universität in die Zukunft führen. Mein Wunsch ist, dass wir als universitäre Gemeinschaft dabei noch enger zusammenwachsen. Denn egal, wie groß die Herausforderungen auch sein mögen: Wenn wir von unserem Handeln für unsere Universität überzeugt sind, dann werden wir auch die Gesellschaft, die Politik und alle Gutachterinnen und Gutachter überzeugen können und in künftigen Wettbewerben bestehen.
UF: Welchen Rat würden Sie anderen Frauen geben, die auch etwas erreichen wollen?
Kerstin Krieglstein: Sich nicht selbst zu limitieren. Ich habe erst neulich in einem sozialen Netzwerk einen kurzen Beitrag dazu gesehen, sinngemäß übersetzt: „Du denkst, du verdienst den Job nicht? Bewirb dich trotzdem. Du denkst, dein Artikel ist nicht gut genug? Veröffentliche ihn trotzdem. Du denkst, deine E-Mail wird nicht beantwortet? Schick sie trotzdem ab.“ Das trifft es aus meiner Sicht sehr gut. Meine Erfahrung ist: Frauen haben oft das Gefühl, sie müssen Anforderungen zu 150 Prozent erfüllen, um sich dem Wettbewerb stellen zu können. Doch wer sich nicht bewirbt, kann natürlich auch nicht ausgewählt werden. Männer agieren oft viel selbstbewusster, auch wenn sie faktisch keine besseren Leistungen und Qualifikationen aufweisen. Deshalb sollten sich auch Frauen mehr zutrauen: raus aus der Komfortzone, die Nase in den Wind halten – und schauen, was passiert. Und noch etwas: Kritik ist oftmals auch ein Zeichen, auf dem richtigen Weg zu sein.
Vielen Dank für das Interview und alles Gute für die Zukunft!
Fotos: Jürgen Gocke/Universität Freiburg
Sandra Meyndt/Universität Freiburg